Überraschung


Der Zug fuhr in den Bahnhof ein und sie stellte sich so, dass sie die aussteigenden Passagiere gut im Blick hatte. Seit zwölf Jahren hatten sie sich nicht gesehen. Damals war sie gegen den Willen ihrer Mutter zum Vater in die Stadt gezogen. Ihre Eltern lebten schon seit Jahren getrennt und sie kam zu Hause nicht mehr zurecht. Die Kleinstadt mit all dem Muff und keiner Zukunft war einfach nur öde. Die Highlights dort waren die im Ablauf immer gleich langweiligen Familienfeiern, der Seidenquast-Wettbewerb im Hochsommer und vor allem der Weihnachtmarkt mit der jährlichen Prämierung der schönsten, selbstgebastelten Weihnachtskugel. Sie wollte raus aus diesem Mief, zur Universität und einfach mehr vom Leben haben. Also nahm sie das Angebot von ihrem Vater, der als Steuerberater nicht schlecht verdiente und ihr in seinem Haus zwei Zimmer zur Verfügung stellen wollte, an.

Ihre Mutter war alles andere als begeistert gewesen und so herrschte bis zum Tod des Vaters vor einem Jahr absolute Funkstille zwischen ihnen. Sie hatten dann nur telefonischen Kontakt wegen der Beerdigung und den Erbschaftsangelegenheiten. Kurz und sachlich. Zur Beerdigung selbst ließ ihre Mutter sich wegen plötzlicher Krankheit im letzten Moment entschuldigen. Dies überraschte niemanden wirklich und sie am aller wenigsten. Ihr Vater vermachte ihr alles und sie hatte sich entschlossen, das Haus zu behalten und die umfangreiche Modelleisenbahn mit all den Sammlerstücken zu verkaufen, um mit dem Erlös ihre neue Praxis in den untern Räumen einzurichten.

Vor einigen Tagen nun rief ihre Mutter überraschend an. Sie wollte eine Aussprache und Versöhnung. Eigentlich freute sie sich ja auch auf den Besuch, hatte alles aufgeräumt, geputzt, geordnet im Haus. Sogar einen kleinen Fernseher für das Gästezimmer besorgt. Sie wusste doch, dass ihre Mutter niemals ohne Drama auf ihre vormittäglichen Kirchensendungen verzichten würde. Allerdings hatte sie auch Angst vor den kommenden Tagen. Worüber sollte sie mit ihr reden? Ihrer beider Leben waren einfach so völlig unterschiedlich. Es war nicht nur eine Frage der Generationen. Nein, hier knallten in ihrer Vorstellung zwei völlig gegensätzliche Lebenshaltungen aufeinander. Zwei Frauenwelten, die einfach nicht kompatibel waren. Ihre Mutter war streng religiös, ordentlich bis zum Anschlag und jedweder Freude und Lust gegenüber mehr als abgeneigt. Sie selbst jedoch verstand sich als Freigeist, neigte zum Chaos, lachte und liebte sich durch den Tag.

Es würde ein einziges Desaster werden. Sie wusste es einfach.

Da war sie nun. Als eine der Letzten verließ sie den Waggon. Sie hatte sich kaum verändert. Die Haare streng nach hinten gebunden, Tasche und Koffer in der gleichen grauen Farbe. Rock und Blazer dunkel und in einem altmodischen Schnitt. Ihr Gang aufrecht und forsch. Ihre Blicke trafen sich und tänzelnden abschätzend umeinander. Der Kuss auf die Wange von beiden Seiten etwas unterkühlt. Die Fahrt nach Hause unangenehm schweigend.

„Ich mach uns erst mal einen Kaffee, Mutter. Du kannst dich in der Zwischenzeit im Bad ja ein wenig frisch machen.“

Am Küchentisch sitzend wartete sie nun schon seit einer Viertelstunde.

„Was macht die nur so lange im Bad?“

Die Tür geht auf und ihre Mutter steht im Türrahmen. In der erhobenen Hand hält sie zwischen zwei Fingern den neuen, leicht geschwungenen Vibrator.

„Oh, shit, den habe ich vergessen wegzuräumen,“ schießt es ihr siedeheiß durch den Kopf, „das gibt Ärger jetzt!“

„Das scheint ein neueres Modell zu sein. Schöne Form! Ich denke, ich werde meinen alten endlich entsorgen und mir auch so einen kaufen. Das könnten wir doch heute Nachmittag zusammen machen, oder Kind?“

Innerlich die heruntergeklappte Kinnlade wieder einrenkend, bekommt sie nur ein gehauchtes „Na klar, Mutter, gerne.“ heraus. Wow, anscheinend gab es da doch einiges in ihrer Vorstellung zurechtzurücken nach all den Jahren und vielleicht, vielleicht würde dies doch noch eine ganz unangestrengte und unterhaltsame Zeit miteinander werden. Eine Menge neue Türen schienen sich da unverhofft zum Öffnen und Durchschreiten anzubieten.

„Schön, dass du endlich da bist, Mutter!“

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