Sie steht vor dem Spiegel. Schaut sich an. Zum ersten Mal
seit Jahren schaut sie sich wirklich an. Ihr Blick gleitet über die Falten in
ihrem Gesicht, über die scharfen Kanten um die Mundwinkel. Streift die hängende
Haut an ihrer Kehle, die leicht nach vorne gebeugten Schultern, die müde
geneigten Brüste und die aufdringliche Wulst ihrer Bauchschürze. Die noch recht
straffen Pobacken und ihre wohlgeformten Schenkel werden von ihren Augen
gestreichelt. Sie geht in die Knie und beobachtet das Spiel ihrer Beinmuskeln.
Richtet sich auf, hebt die Arme zur Seite und dreht sich hin und her.
„Ach, Weib! Schön bist du!“
Ein Lächeln erstrahlt in ihrem Gesicht und sie streckt sich
die Zunge heraus:
„Wo warst du nur die ganzen letzten Jahre? Wie konntest du
dir nur so abhanden gekommen sein?“
Sie sinkt vor dem Spiegel auf die Knie, die Arme fest um
sich geschlungen. Sie weiß es ja. Erinnert sich. An die unendliche Traurigkeit,
an die kalte Einsamkeit nach dem Tod des geliebten Mannes vor Jahren. An die
Wochen und Monate, in denen sie sich vergrub in Tränen und Unfassbarkeit. Dann
der Zorn und die Wut, die sie doch nicht nach außen tragen konnte und in sich
hineinschluckte. Die Jahre, die sie wie paralysiert in geschlossenen Räumen
verbrachte, verbunden mit der Wirklichkeit nur noch durch die Scheinwelt des
Fernsehens. Gefangen in sich selbst, umgeben von den staubigen Attributen einer
längst vergangenen, verloren Zeit. Kreiselnd in Gedanken an Alter und Tod,
versinkend in Selbstmitleid und einer schreienden Sehnsucht nach dem
Unmöglichen.
Krank war sie damals, an Geist und Körper. Letzteren
schändend durch zuviel Essen, so als könnte sie die Leere in sich füllen mit
all der Schokolade und all dem ungesunden Fraß. Mauern aus Fett, hinter denen
sie sich selbst verlor. Keine Luft zum Atmen. Keuchend in der Nacht, am Tage zu
schwach weiter als bis zum Supermarkt zu schleichen. Sich selbst aufgebend, vom
Hausarzt schon längst abgeschrieben. Ruhig gestellt mit Antidepressiva und
Asthmamedikamenten. Leblos. Sich selbst nicht mehr spürend.
Und dann tauchte „Sie“ auf. Dieses kleine, rundliche Wesen.
So viel jünger als sie selbst. Ein Wirbelwind, ein Bündel an Chaos und Energie.
Hüpfte in ihr Leben, fiel von Jetzt auf Gleich vom Himmel und stand eines
Morgens als stundenweise Hilfe vor ihrer so gut verbarrikadierten Tür. Dieses
Lachen, diese Lebensfreude pur. Zuerst war sie nur sprachlos. Fühlte sich
überrannt. Wollte sich zurückziehen, abwehren, raus werfen. Wie konnte dieses
Wesen es wagen, so in ihr Leben zu platzen? Wie konnte dieses junge Ding sich
anmaßen über ihren Schmerz einfach hinwegzuhören? Wie konnte sie sich
erdreisten einfach den Fernseher auszumachen, die Vorhänge zu öffnen und die
Fenster weit aufzureißen?
Nach einer Weile schleppte Anna sie ins Yoga. Provozierte
sie so lange, bis sie sich auf dieser schmalen Matte wieder fand. Wie ein
dickes Walross auf dem Land fühlte sie sich bei den ersten Übungen. Es schien
keine Verbindung zu geben zwischen Kopf und Muskeln. Gestörte Leitungen. Ihr
Körper tat nichts, aber auch gar nichts von dem, was ihr Kopf ihm befahl. Zum
ersten Mal seit Jahren spürte sie, dass da irgendwas nicht stimmte, dass ihr
Körper nicht mehr zu ihr gehörte. Weinend lag sie daraufhin stundenlang in den
Entspannungsübungen. Tränen, millionenfach ungeweinte Tränen lösten Konten für
Knoten, brannten Fettzelle um Fettzelle hinweg. Und mit jedem Schluchzer, mit
jedem Seufzer, mit jedem kontrollierten Atemzug, mit jeder geschafften Übung
sog sie das Leben in sich ein. Spürte, spürte sich wie nie zuvor. Sinnlichkeit,
eine neue, unvermutete Sinnlichkeit breitete sich in ihr aus. Eine Tür öffnete
sich und ließ sich nicht mehr schließen.
Drei Jahre ist dies nun her. Anna wohnt mittlerweile in
einer anderen Stadt, hat ihr Studium abgeschlossen und arbeitet nun mit
Kindern. Sie telefonieren oft miteinander. Oder unterhalten sich über das
Internet. Oh ja, auch dies hatte Anna ihr beigebracht. Teufelszeug, unsinniger
moderner Quatsch nannte sie selbst es damals. Anna lachte nur und schaffte über
Freunde einen alten PC in ihr Wohnzimmer. Bestand hartnäckig darauf, dass sie sich
nächtelang damit beschäftigte. Ohne recht zu wissen, wie ihr geschah, war sie
plötzlich Besitzerin einer DSL-Leitung und betrat staunend eine neue Welt.
Heute erscheint ihr der Umgang mit diesem Medium wie eine
Selbstverständlichkeit. So viele neue Menschen hat sie darüber kennen gelernt.
So viele Informationen in Wissen für sich verwandelt. Nein, sie möchte diese
Art der Kommunikation nicht mehr missen.
Sie erhebt sich. Wischt das Nass aus ihrem Gesicht. Lächelt
sich noch einmal zu und schickt in Gedanken eine tiefe Umarmung, einen dicken
Kuss zu Anna.
Nun muss sie sich beeilen. Rasch schlüpft sie in die schon
auf dem Bett bereit gelegten Kleider. Helle Kleider in sanften Farben. Seidige
Strümpfe und hohe, passende Schuhe. Sie trifft sich heute Abend mit Helmut.
Helmut, den sie über einen Chat kennen gelernt hat. Der sie seit Wochen mit
Worten und zugeschickten Blumen umgarnt. Der ihre Vorlieben für klassische
Literatur und modernen Tanz teilt. Der ganz in der Nähe wohnt und heute Abend
mit ihr zu einem Konzert einer altbekannten Rockband ausgehen wird.
Ihre Finger zittern ein wenig, als sie leichte Schminke
auflegt. Ihr Herz klopft ihr bis zum Hals. Sollte sie nicht doch lieber
absagen? Eine Erkältung vortäuschen? Überraschend aufgetauchter Besuch? Allgemeine
Unpässlichkeit? Doch kaum gedacht, sieht sie vor sich die hochgezogene
Augenbraue von Anna und den zu einer saftigen Bemerkung bereits gespitzten
Mund. Kichernd fährt sie noch einmal mit dem Kamm durch ihre Haare, schnappt
sich die Handtasche, wirft ihrem Spiegelbild noch einen lächelnden Gruß zu und
eilt zur Tür.
„ Oh ja, Anna, das Leben ist wunderschön und hört nicht auf,
nur wegen einer dummen Angabe auf der Geburtsurkunde! Es ist nur eine Zahl,
mehr nicht!“
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