Garwall erwacht


Träume von den Wandlungen

Ich stehe am Rande des Abgrundes. Tief unter mir schlängelt sich der Fluss. Er ist wunderschön, mit tiefen, dunklen Stellen und seichten Gestaden. Einladend und abweisend, verschlungen und geheimnisvoll, voller Bewegung. An die tiefsten Stellen werde ich mich diesmal begeben, voll Angst und Vertrauen.

Langsam steige ich nach unten. Niemals mit Hast, aufmerksam jeden Schritt im Hier und Jetzt empfindend. Musik hilft, manchmal laut und aggressiv, manchmal sanft und einschmeichelnd. Oben ist es hell, die Farben lichtdurchflutet und glitzernd. Beim Abstieg verändert sich das Licht. Die Farben werden dunkler, wärmer, bedrohlich und einladend. Die Gerüche werden intensiver, die Geräusche wohlklingender: Basstöne, der Geruch nach nasser, dunkler Erde, grün, braun, schwarz.

Ich lasse mich fallen, koste die Eindrücke mit meinem ganzen Körper, umfasse die Luft, die Bäume, wühle in der Erde und verändere mich, passe mich an. Die Hülle fällt. Muskeln breiten sich aus, verdrängen Äußerlichkeiten. Masse verwandelt sich in Knochensubstanz und fließt stärkend und aufrichtend in die Wirbelsäule. Brüste festigen sich und geben großzügig Überschüssiges an andere Organe ab. Die Lunge wird weiter und durchlässiger, das Becken schiebt sich nach vorne. Sinnlichkeit macht sich breit und mit ihr kommt Stärke und das Lachen. Ich bin wieder bei mir und begrüße mich mit glucksenden Tönen. Ein Schrei, laut und fordernd bannt sich seinen Weg durch die Räume meines Körpers: „Ayah! Ich bin das Leben und ich bin der Tod; Samen und Fäulnis. Ich bin Kind, Frau, Mutter und Greisin. Ich bin die Liebe und der Hass. Ich bin Eine und Alle und Nichts. Ich bin das Fehlende und ich bin das Ganze. Ich bin ich und doch nur das Du – und dieses biete ich zum Geschenk.“

Ein Hauch von Bewegung, rechts unter mir, kaum wahrnehmbar, sich entfernend, einladend. Ich folge. Der Fluss scheint hier dunkel und ruhig. Alte Weiden begrenzen den Lauf, Wassermücken und Libellen kreisen. Unzählige Pflanzen drängen sich enger zusammen, bilden eine Mauer und erzwingen unerbittlich die Überquerung des Wassers über einen morschen Baumstamm. Er trägt die ungewohnte Last leicht schwankend mit Geduld und Festigkeit. Gelbe Blüten begrüßen mich mit einem irritierenden Duft.

Meine Lider verengen sich, Anspannung breitet sich aus. Ich kenne diesen Geruch: Gitterstäbe, ein Kinderbett? Wieso ein Kinderbett? So früh? Zu früh! Die Kleine träumt. Sie berührt sich. Fühlt Stärke und Erregung. Die Berührungen ihrer Finger werden intensiver, schneller und die Bilder unschärfer. Feuerblumen in Körperöffnungen, verschwommene Nacktheit, Ausgeliefertsein, Dominanz. Heiße Wellen breiten sich in ihrem Körper aus: dies ist ihr Geheimnis, unteilbar und nicht entreißbar, nur ihr zugehörig. Sie entspannt sich, schläft ein, steht auf und geht zur Toilette. Lautes Geschrei: „Warum hast du schon wieder ins Bett gepisst?“ Schläge. Und der Geruch der gelben Blumen, Löwenzahn, Pissblume.

Sie steht vor dem geschlossenen dreiteiligen Spiegel der Kommode im Schlafzimmer der Eltern. In der Erwartung ihres sich unendlich wiederholenden Bildes, öffnet sie die Flügel und sieht: ein grausames, dreieckiges Gesicht, spitze Ohren und Zähne, hervorquellende Augen. Sünde und Aussatz pur und die absolute Gewissheit: Das bin ich. Der Schrecken wird tief vergraben, der Spiegel nie wieder geöffnet. Widder und Löwin verlassen die Bühne. Die Wölfin vergräbt sich tief in den Falten ihres Körpers. Einsamkeit. Die Ausbildung zur angepassten Frau beginnt.

Ich sinke in den Duft des gelben Blütenmeeres. Ertrinkend im Tränenstrom liegt die Kleine zärtlich umfasst auf meinen Schoß. Liebe webt ein zartes Netz und fügt den Splitter ein. So viele Teile verborgen, verloren. Nach einer Weile durchbricht ein Geruch den Schleier der Traurigkeit:  Er ist hier, wie immer. Wartend.

Mich aus der Vergangenheit lösend, erhebe ich mich und strecke die Arme in die Höhe. Die ankommende Nacht schickt lockende Rufe aus. Ein Feuer erfasst meinen Leib, ausgehend von den Fußspitzen überrollt es mich, breitet sich in den Lenden aus, dringt in jede Körperöffnung ein.  Weiße Flammen umspielen meine Brust, der Puls passt sich dem Rhythmus der Dunkelheit an. Schneller, heißer, schneller  ...  die Wölfin erwacht. Vierzig Jahre gefangen, gedemütigt, verleugnet, betrogen um ihre Kraft und Lust, gefangen in dem Moder von Konventionen und  uneingelösten männlichen Versprechungen streckt sie sich jetzt dem Wind entgegen. Sie spannt ihre Muskeln und schleudert  ihre Wut mit einem lauten Schrei den dunklen Bäumen entgegen.

Dann läuft sie. Rennt entlang der Bahnen ihrer Lust, spürt ihren Körper, ihre Schönheit, ihre Macht. Er folgt ihr. Läuft parallel mit ihr, schneidet ihr den Weg ab, springt sie an. Wütend setzt sie sich zur Wehr. Der Geruch von Blut tränkt die Luft. Sie hält inne. Schäumend steht er ihr gegenüber, seine Flanken zitternd: Warum wehrst du dich? Warum gibst du dich mir nicht hin? Ich fühle deine Sehnsucht und deine begehrende Liebe. Fordernd tritt er ihr entgegen.

Sie weicht nicht: Nein! Deine Gier ist eine Lüge. Du spielst, ohne Ziel, ohne Gefühl. Dein Feuer ist kalt und berührt nicht den Grund. Du bist gefangen in deinen Ängsten, deinen Vorurteilen und in deiner männlichen Vergangenheit. Du stülpst mir dein Bild von Weiblichkeit, Lust und Liebe über und die von dir hergestellte Nähe entfernt dich immer weiter von mir. Meine Liebe zu dir ist kein Spiel, meine Sehnsucht nicht für Minuten tauglich. Ich begehre dich, wider alle Regeln. Meine Hingabe ist von einer Ausschließlichkeit, die du bisher nicht ertragen konntest. Du sehnst dich nach ihr und doch verhinderst du sie mit all deiner Kraft, deiner verwirrten maskulinen Intelligenz und deinem Festhalten an einer von der Gesellschaft normierten Freiheit, die dich einsperrt in ihre Zwänge und Normen. Sieh mich endlich an!

Er senkt nachdenklich den Blick: Lehre mich diese Form der Liebe! Traurig schaut sie ihn an. Zärtlich schmiegt sie sich an seine Flanke, fährt ihm sachte über das Gesicht: Ich werde es dich lehren. Wenn dein Vertrauen zu mir größer ist als die Angst vor dem Verlust deiner sorgfältig gepflegten Schablonen über die gängigen Formen der Liebe. Ich werde da sein, durch die Nacht rennend und meine Lust mit dir teilend,  wenn du mich endlich erkennst über all die Zeiten und den Raum, als Teil von dir,  zugehörig, verbunden, untrennbar.

Sie stürmt den Hügel hinauf. Sie schaut sich nicht um, Tränen laufen über ihr Fell und erlöschen die weißen Flammen und ich finde mich oberhalb des Flusses wieder. Die Schwere meines Körpers umgibt mich. Langsam erhebe ich mich. Ich werde wieder kommen, jagend, bittend, wartend und hinabsteigend zu dem braunen Grund des Tales. Er wird da sein, und vielleicht eines Tages meine Art der Liebe annehmen können.

Bis dahin spiele ich das Spiel, unterbrochen von meiner regelmäßig wiederkehrenden grenzenlosen Wut und dem nur mühsam in kreative Bahnen zu lenkenden Zorn und ...mit diesem hellen, lauten und befreiendem Lachen in mir.


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