Elisa will nicht schlafen.


Elisa will nicht schlafen. Sie weigert sich. Sie wehrt sich mit aller Kraft. Keiner weiß, woher sie diese Kraft nimmt. Elisa hat Angst. Sie weiß doch, dass sie schon schläft. Sie träumt einen schrecklichen Traum. Wenn sie in diesem Traum einschläft, wird sie sterben. Davon ist sie überzeugt. Deshalb muss sie aufwachen. Die Menschen um sie herum, sie kennt sie nicht. Es sind Traumgeister, die in einer fremden Sprache zu ihr sprechen. Sie bedrängen sie. Sie versuchen ihr Wasser in den Mund zu gießen. Sie beißt ihre Lippen fester zusammen. Sie fühlt das Nass und sie hat so einen wahnsinnigen Durst. Sie darf nicht trinken. Nimmt sie etwas von den Traumgeistern an, so bleibt sie für ewig im Traumland gefangen. Immer wieder hat sie diese Geschichten von den Frauen im Dorf gehört. Wo ist ihr Dorf? Wo sind die Frauen? Es ist heiß, so heiß. Sie muss aufstehen, weiter laufen. Warum bewegen sich ihre Beine nicht. Sie haben sie festgebunden. Die Traumgeister schreien und ein großer Vogel senkt sich herab. Seine Flügel drehen sich wild und laut. Sie bewegt sich, sie schwebt auf den Vogel zu. Nein, Hilfe, nein – alles wird dunkel. 

Elisa schlägt die Augen auf. Die Sonne scheint durchs Fenster. Sie liegt in einem weichen Bett. Sie fühlt sich müde und zerschlagen. Wo ist sie? Eine Hand streichelt ihr Gesicht. Sie kennt den Duft, fühlt die bekannten Schwielen über ihre Wangen gleiten. „Hallo, Liebes, alles wird gut. Schlaf mein Kind, schlaf, es kann dir nichts Schlimmes mehr geschehen. Schlaf meine Tochter, schlaf.“ Der Singsang von Mutters Stimme hüllt sie ein. Elisa entspannt sich und schläft.

„Guten Morgen, mein Liebling!“ Die Stimme ihrer Mutter klingt weich und verführerisch. Elisa schlägt die Augen auf. Wer ist diese Frau neben ihrem Bett? Sie sieht so fremd aus. Ihre Mutter hatte volle, lange dunkle Haare, die ihr schwer über die wohlgeformten Schultern fielen. Ihre Augen blitzten vergnügt in dem rundlichen Gesicht. Ihre großen Brüste boten nicht nur dem kleinen Bruder Nahrung und Wärme, sondern auch Elisa Schutz und Geborgenheit. Die breiten Hüften bewegten sich rhythmisch zum Tanz und die Füße stampften den Takt. Vor ihr sitzt ein Gespenst. Eine alte Frau mit stumpfem Haar, schmalem Gesicht mit eingefallenen Wangen. Die Schultern knochig nach vorne gebeugt und die Hände zittrig im fleischlosen Schoß liegend. Wer ist das? Die Stimme gehört ihrer Mutter und in den Augen erkennt sie vage den erinnerten Schein. Was ist geschehen? Bilder in Rot und Schwarz formen sich vor Elisas Augen. Feuer, Soldaten, Gewehrschüsse – ihr Vater rennt zurück zur Hütte. Er will den Sohn vor den Flammen retten. Das brennende Dach stürzt über ihm zusammen. Elisa rennt mit den anderen davon. Nur weg vom Dorf. Immer weiter und weiter laufen sie. Kein Essen, kein Wasser. Tagelang, wochenlang. Wer hinfällt, bleibt liegen, die anderen steigen über ihn hinweg. Ein böser Traum, nein kein Traum. „Mama, hilf mir, hilf mir doch!“ Die Mutter schließt sie fest in die zittrigen Arme. Alles wird dunkel.

Elisa ist jetzt schon seit mehreren Wochen auf der Station. Langsam kommt sie wieder zu Kräften. Jeden Tag steht sie für eine kurze Zeit auf. An Krücken bewegt sie sich langsam durch den Flur. Ihre dünnen Beinchen können das Gewicht ihres Körpers noch nicht alleine tragen. Ihre Mutter ist die meiste Zeit bei ihr. Am Anfang konnte Elisa nichts essen. Über einen Schlauch wurde die Nährlösung direkt in ihren Magen geleitet. Auch jetzt fällt ihr das Schlucken schwer. Und noch viel schwerer fällt es ihrem Körper, die Nahrung bei sich zu behalten. Elisa hat einen richtigen Ekel vor dem Essen. Obwohl sie einen wahnsinnigen Hunger hat, verkrampft sich alles in ihr, wenn die Mutter den Teller zum Bett bringt. Der Arzt sagt, dass es nichts mit dem Körper zu tun hätte, sondern mit ihrem Kopf und ihrer Seele. Manchmal unterhält er sich mit ihr und versucht ihr etwas zu erklären. Elisa versteht ihn ein wenig. Die Schwestern in ihrer Schule im Dorf haben auch in dieser Sprache gesprochen. Und sie lernt schnell. 

Bald wird sie mit ihrer Mutter das Krankenhaus verlassen. Sie werden in einem Wohnheim für Flüchtlinge zwei Betten bekommen. Und, Elisa darf wieder in die Schule gehen. Die Mutter und die Ärzte haben es ihr fest versprochen. Sie freut sich so sehr darauf, es ist wie ein Licht am Ende eines dunklen Tunnels. Wenn sie die Angst überfällt, die Bilder sie überrollen und einzufangen drohen, dann, dann denkt sie an dieses Versprechen und hält es wie einen Talisman gegen böse Geister in sich fest.

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