Windschwester


Sie ist seit Anbeginn der Zeiten der Punk in der Familie, das schwarze Schaf unter ihren Schwestern. Die Unhandsame, die Widerborstige, die Eigenständige. Die, die man lieber verschweigt und bei der man schon mal vergisst Einladungen zu öffentlichen Events, wie zum Beispiel jene zum Geburtstag vom Chefe, an sie weiter zu reichen. Auch hatte man ihr, im großzügigen Eigennutz, per Beschluss des Familienclans, nur zu gerne die alte Burg am nördlichen Rande der Welt, mitten im eisigen Meer, zu eigen gegeben, denn über Wasser kann sie nicht gehen, ein Boot betreten ist ihr, weil sie ist, wer sie ist, von Geburt an versagt.
Nur wenn der Wind gar zu stürmisch und der Regen richtig heftig ist, kann sie auf den Flügeln des Sturmes reiten und über die Windfäden den Boden des Festlandes erreichen. Doch solche Jahrhundertstürme hielten sich bisher in Grenzen und so konnten die großen Drei meist in Ruhe spinnen, messen und schneiden, ohne dass sie mit Argusaugen darauf achten mussten, nur kein noch so winziges Fädchen zu verlieren. Denn dies war und ist die Lust und Freude der Vierten: Jeden unachtsam zu Boden fallenden Faden ihrer Schwestern, jeden Schnipsel aufzusammeln und an ihrem Webstuhl in eine andere, vom Schicksal losgelöste, freie Form zu wandeln.
Doch das Wetter ändert sich, denn nichts bleibt wie es war. Der Webstuhl ist frisch geölt und die Fenster weit geöffnet. Ein Sturm kommt auf. Bald.

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