Spinnweben und Rosenzucht


Ihr Unterricht musste heute leider ausfallen. Zum ersten Mal in ihrer vierzigjährigen Lehrtätigkeit hatte sie sich krank gemeldet. Dies war ihr unendlich schwer gefallen und ein leichtes Schamgefühl huschte piekend durch ihr Gemüt. Doch es gab keine andere Möglichkeit, denn bei der letzten Feier im traditionellen Hausfrauenclub war ihr so ein widerspenstiger Kern von einem Kürbis in die Zahnlücke zwischen Schneide- und Eckzahn gerutscht und hatte angefangen dort Wurzeln zu schlagen. Der Schmerz krabbelte in den letzten Tagen wie eine Spinne durch ihre ganze rechte Gesichtshälfte. Sanft zuerst, nur leise tapsend, doch sich mehr und mehr steigernd, so als würde das Spinnentier über Fäden empfindliche Nervenzellen umgarnen und schließlich diese mit einem finalen Ruck festzurren.

Die Vorstellung war so widerlich real, dass sie mehrmals in der letzten Nacht zum Spiegel rannte um dort nachzuschauen, ob tatsächlich etwas unter ihrer Haut krabbelte oder sich Spinnweben im Weiß ihrer Augen wieder fänden.

Zahnarzt war jetzt also angesagt. Da es ein überraschender Termin ohne zeitlichen Spielraum, also quasi ein Notfalltermin war, würde sie leider mit Herrn Dr. Langstrohm vorlieb nehmen müssen, da Frau Dr. Schneider-Knörrig ausgerechnet heute nicht im Hause weilte. Dies war ihr ausgesprochen unangenehm, kannte sie diesen Herrn doch schon längere Zeit aus dem örtlichen „Rosenzucht“ Verein, wo er immer wieder mal mit dem Vorschlag die Gemüter erhitzte, die Vereinssatzung um den Bereich der Orchideen Züchtung zu erweitern. Von Rosen verstand er nämlich gar nichts, dafür war er aber ein ausgesprochen fanatischer Liebhaber der Orchideen, die er als Königinnen der Blütengewächse euphorisch missionarisch den Vereinsmitgliedern in schöner Regelmäßigkeit anpries. Sie selbst jedoch war ausgesprochen stolz auf ihre preisgekrönten Rosenzüchtungen und duldete auch keine Neuerungen in Bezug auf ausländische Gewächse, weshalb sie im Laufe der letzten Jahre schon mehrmals heftig aneinander geraten waren. Sie grüßten sich nicht mehr beim sonntäglichen Brötchenkauf und übersahen den jeweils anderen bei jedem weiteren gesellschaftlichen Anlass geflissentlich.

Und ausgerechnet zu ihm musste sie jetzt eilen, denn die Spinnenschmerzen im Gesicht waren kaum noch auszuhalten. Es würde ein Scheißtag werden und sie hätte den Englischunterricht in der nervigen 9c, den sie hasste und der sie immer öfters an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachte, allemal diesem Schmerzensgang vorgezogen. So schlüpfte sie, trotz Eile, im Vorbeigehen doch noch einmal schnell in ihr Gewächshaus, streichelte ihre Pflanzen mit einem liebevollen Blick, sprühte diese und jene nochmals mit dem neuen Insektenvernichtungsspray ein und machte sich dann mit einem tiefen Seufzer auf den Weg. Sie hasste Spinnen.

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