Das würde ja nun schon reichen. Tut es aber nicht. Denn
Dorothee hat sehr lange gebraucht sich dazu durchzuringen an diesem bestimmten
Tag in genau diesen Zug zu steigen und zu ihrem Vater zu fahren. Um genau zu
sein: 23 Jahre.
Dreiundzwanzig Jahre hat sie so getan, als teile sie diese
Welt nicht mehr mit ihm. Als gäbe es ihn gar nicht, obwohl er doch rund um die
Uhr in ihr anwesend war. Mal schleichend leise, mal laut schreiend ihre eigene
innere Stimme übertönend. Mal bittend, mal zornig bestimmend, mal schweigend
drohend. Er war immer da und besetzte so viele innere Räume in ihr, dass sie
manchmal gar nicht wusste, wo ihr eigenes, inneres Plätzchen denn sein könnte.
Ausziehen aus sich selbst ging ja nicht. Immer nahm sie sich
und ihn mit, egal welch neue äußere Verortungen sie auch durchführte. Er war
und blieb ein Mitbewohner.
Alles hatte sie versucht, den Zorn gelebt, der Wut, der
Trauer Namen und Aufmerksamkeit gegeben. Sie hat ihn tausendmal erstochen,
gewürgt und totgeschlagen in sich. Doch er blieb immer anwesend.
Damit war jetzt Schluss. Diesmal würde sie den Mietvertrag
endgültig kündigen. In der Kündigung würde stehen: „Lieber Vater. Ich danke dir
dafür, dass du mich gezeugt und minimal versorgend groß hast werden lassen. Dieser
Dank kommt von Herzen und deckt alle eventuell in deiner Vorstellung noch vorhandenen
Schulden und Verpflichtungen ab. Ein Dauerwohnrecht in mir ist darin jedoch
nicht enthalten. Es gibt auch keinen Platz mehr für dich in mir, denn die Räume
wurden nun anderweitig vermietet. Zum Teil werden sie für den Eigenbedarf
benötigt, zum Teil zieht dort ein kleines Mädchen ein, das ich nun endlich in
die Arme schließen und liebevoll bei und in mir aufnehmen kann. Leb wohl,
Vater, und viel Spaß beim Entrümpeln deiner eigenen Bude."
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