Gleichklang und Disharmonien


Nun stand er hier, in der Schlange vor dem Postschalter. In der Hand hielt er die kleine, verpackte Spieldose, die er ihr heute schicken wollte. Die Lochkarte dafür hatte er selbst hergestellt. Mit ihrem gemeinsamen Lied drauf.

Diese Musik, die er damals in London zum ersten Mal gehört hatte. Beide waren sie sich zufällig im klassischen Doppeldeckerbus beim Sightseeing begegnet. Sie saßen sich gegenüber und sie trug einen Walkman. Sehr laut gestellt und er fragte sie nach der Musik, die ihm so seltsam unpassend für ihr Alter erschien. Bis zur Endstation teilten sie sich dann die Kopfhörer. Damit fing alles an. Sie trafen sich noch ein paar Mal in London und besuchten zusammen diese, ihm bisher unbekannten, Clubs.

Sie war ein quirliges, verrücktes, spontanes Wesen. Sie riss ihn mit durch ihre strudelige Lebendigkeit. Sie war so ganz anders als die beschaulichen, zuverlässigen Frauen in seinem bisherigen Leben. Alleine das bunte Gemisch ihrer Kleidung faszinierte ihn jeden Tag aufs Neue. Wie eine bunte, wahllos beklebte wandelnd strahlende Litfaßsäule erschien sie ihm. Sie war so ganz und gar anders als er und so gar nicht passend für sein wohlgeordnetes Leben als Instrumentenbauer.

Sein bisheriges Leben war bestimmt durch Familientradition, Gleichmaß und Vorhersehbarkeit. Beruflich setzte er den Familienbetrieb in der vierten Generation außerordentlich erfolgreich fort und gönnte sich nur ab und an eine dieser Städtereisen zur Erbauung. Durch dieses seltsam unbekannte Frauenwesen betrat er in den Londoner Tagen eine für ihn völlig neue Welt. Verliebtheit machte sich in ihm breit und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er den Geschmack von Lust und Abenteuer auf der Zunge. Der Abschied von ihr fiel ihm nicht leicht.

So blieben sie auch in Deutschland in Kontakt und nach einem Jahr mit langen, durchtelefonierten Nächten und kurzen, stürmischen Wochenendbesuchen kamen sie überein, dass sie ihren Lebensmittelpunkt in seine Stadt verlegen sollte.

Verrückte Verliebtheit wandelte sich in den kommenden Monaten in den ruhigen Gang der Liebe und schließlich zogen sie zusammen in ein kleines Haus mit seiner Werkstatt im Erdgeschoss. Anders als in London übernahm er nun ihre Führung durch seine Welt. Er war glücklich.

Gleichklang, Routine, Stabilität, Sicherheit breitete er vor ihr aus. Sie begleitete ihn weit hinein in seine Art des Lebens. Aus der verrückt strahlenden Litfaßsäule wurde im Laufe der Jahre ein stilvoll still gerahmtes Bild in sanften Brauntönen, das ihm sehr gefiel. Alles erschien ihm so wunderbar. Bis zu jener Nacht vor einigen Monaten, als er sie nicht wie immer an ihrem Schreibtisch vorfand. Ihre Worte, in dem Brief auf dem kleinen Tischchen im Treppenhaus, trafen ihn wie ein kalter Regenguss:

„Ich werde dich heute verlassen, mon amour! Ich liebe dich, aber du nimmst mir die Luft zum Atmen. Alles ist so beschaulich, so geplant, so sicher. So geordnet, so verlässlich. Da ist kein Platz für Verrücktheiten, da ist kein Spontanes, kein Überraschendes mehr. Da ist nur gleichmäßiges Dahinplätschern. Ein mittelmäßiges Einerlei der Vorhersehbarkeiten. Aber Leben ist nicht so. Nicht in meiner Welt. Da war einmal so viel Kraft und Lust und Vermögen in mir. Dieses alles ist mir abhanden gekommen in den letzten Jahren. Ich will diese Form von Impotenz dem Leben gegenüber nicht mehr. Verzeih mir und habe Dank für alles!“

In den kommenden Monaten versuchte er zu begreifen und begriff doch nicht viel. Ihre Telefongespräche erschienen ihm eigenartig fremdsprachig unverständlich. Nun stand er hier, in der Schlange vor dem Postschalter. In der Hand hielt er die kleine, verpackte Spieldose, die er ihr heute schicken wollte. Zum Abschied. Als Dankeschön. Zur Erinnerung. Und als Pfand für ein mögliches Wiedersehen in den kommenden Jahren.

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